Nicht die Legasthenie, sondern die Folgen sind das Problem
Als Internationaler Systemischer Coach für Perspektivenentwicklung und Pädagogin habe ich über viele Jahre Familien begleitet, deren Kinder mit Legasthenie zu kämpfen hatten. Immer wieder zeigt sich: Nicht die Legasthenie selbst ist das größte Problem, sondern die Art und Weise, wie wir als Gesellschaft
damit umgehen, meint Friederike Marx, Fachbereichsleiterin Kinder-, Jugend und Familie in der Gesellschaft für Perspektivenentwicklung.
Das Problem beginnt mit der Kommunikation
Kinder, die in ihrer frühen Entwicklung mit Begriffen wie „Schwäche“, „Störung“, „Beeinträchtigung“ oder „Lernprobleme“ konfrontiert werden, entwickeln oft ein verzerrtes Selbstbild. Worte haben Macht -besonders in den prägenden Jahren. Wenn ein Kind von Lehrern, Eltern oder Gleichaltrigen als „schwach“ oder „faul“ bezeichnet wird, beginnt es, sich selbst durch diese negativen Begriffe zu definieren. Statt Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten aufzubauen, verinnerlicht es die Vorstellung, dass mit ihm etwas „nicht stimmt“.
Psychologisch betrachtet, hat diese negative Rückmeldung gravierende Auswirkungen auf die
kindliche Entwicklung. Kinder in diesem Alter sind besonders empfänglich für Feedback, da ihr
Selbstbild noch in der Entstehung ist. Wenn sie wiederholt hören, dass sie „nicht gut genug“
oder „anders“ sind, entwickeln sie Versagensängste und Unsicherheiten. Ein Kind, das ständig
negative Botschaften verinnerlicht, nimmt irgendwann an, dass es keinen Sinn hat, sich
anzustrengen, weil Anstrengung ohnehin nicht zu Erfolg führt. Dieses Phänomen nennt man
„erlernte Hilflosigkeit“: Die Kinder geben auf, bevor sie überhaupt versuchen, Herausforderungen anzugehen, weil sie glauben, dass es sowieso keinen Unterschied macht. Diese inneren Kämpfe zeigen sich häufig auch körperlich. Kinder reagieren auf den ständigen Druck oft mit psychosomatischen Beschwerden wie Bauchschmerzen, Schlafproblemen oder Kopfschmerzen. Der ständige Stress und das Gefühl der Überforderung äußern sich also nicht nur in schlechten Schulleistungen, sondern auch in ihrem allgemeinen Wohlbefinden.
In der Schule kommt es dann häufig zu einer Abwärtsspirale: Schlechte Noten verstärken den Glauben an die eigene Unfähigkeit, was zu weiterem Rückzug und Leistungsabfall führt. Doch die Problematik geht über die schulischen Leistungen hinaus. Kinder, die sich als „schwach“ oder „unzureichend“ erleben, haben auch im sozialen Umfeld Schwierigkeiten. Sie fühlen sich ausgegrenzt oder nicht verstanden, was langfristig zu einem niedrigen Selbstwertgefühl und psychischen Belastungen wie Angststörungen oder Depressionen führen kann.
Legasthenie: Mehr als nur eine Lernschwäche
In meiner Praxis begleite ich Familien, die unter dem ständigen Druck stehen, den schulischen
Anforderungen gerecht zu werden. Ein Beispiel: Paul, ein aufgeweckter Junge, mochte die
Schule zunächst sehr. Doch im zweiten Schuljahr häuften sich seine Fehler im Schreiben, und
selbst in Mathematik ließ seine Leistung nach. Die Folge: schlechte Noten, Selbstzweifel und
Bauchschmerzen – typische psychosomatische Reaktionen, die ich leider oft beobachte.
Viele Eltern, wie auch Pauls, machen sich Vorwürfe. Sie fragen sich, ob sie nicht genug üben
oder etwas falsch gemacht haben. Dabei ist das nicht der Fall. Es sind nicht die Eltern, die
versagt haben, und es ist auch nicht das Kind, das „zu wenig übt“. Der Schlüssel liegt darin, das
Kind zu verstehen und es auf seinem individuellen Weg zu begleiten.
Die Kinder befinden sich in bester Gesellschaft
Viele Eltern und Kinder wissen nicht, dass Legasthenie keineswegs ein Hindernis für Erfolg sein
muss – im Gegenteil! Einige der bekanntesten und erfolgreichsten Persönlichkeiten in
Wissenschaft, Politik und Kunst hatten oder haben Legasthenie. Ihre Erfolge zeigen, dass diese
Lernschwäche kein Hindernis für ein erfülltes und produktives Leben ist, sondern dass auch
Menschen mit Legasthenie Großes leisten können.
Nehmen wir Albert Einstein, einen der brillantesten Köpfe der Geschichte. Trotz seiner
Legasthenie revolutionierte er die Physik und prägte unser Verständnis des Universums. Auch
der britische Premierminister Winston Churchill, der während des Zweiten Weltkriegs eine
führende Rolle spielte, kämpfte mit einer Lese-Rechtschreibschwäche.
In der heutigen Zeit gibt es viele prominente Persönlichkeiten, die trotz ihrer Legasthenie
beeindruckende Erfolge feiern. Bodo Ramelow, der Ex-Ministerpräsident von Thüringen, stand an der Spitze einer deutschen Landesregierung, obwohl er in der Schule wegen seiner
Legasthenie häufig Schwierigkeiten hatte. Er spricht offen darüber, wie er mit seiner
Lernschwäche umging und letztlich einen erfolgreichen Weg in die Politik gefunden hat.
Der Unternehmer und Gründer der Virgin Group, Richard Branson, hat nie zugelassen, dass
seine Legasthenie ihn aufhält. Stattdessen sieht er sie als eine Quelle seiner Kreativität und seines unkonventionellen Denkens. Ebenso beschreibt der berühmte Filmregisseur Steven
Spielberg seine Legasthenie als Teil seiner besonderen Art zu erzählen und kreativ zu denken.
Auch in der Literatur gibt es Beispiele: Die berühmte Schriftstellerin Agatha Christie, die mit
ihren Kriminalromanen wie „Mord im Orient-Express“ Millionen von Lesern fesselte, hatte
ebenfalls Legasthenie. Trotz ihrer Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung hinterließ sie ein
literarisches Vermächtnis, das bis heute Bestand hat.
Ein weiteres Beispiel aus der Philosophie ist der französische Schriftsteller und Philosoph Jean-
Jacques Rousseau, der ebenfalls Legastheniker war und dennoch bedeutende Werke schrieb, die
das politische und pädagogische Denken seiner Zeit prägten.
Frühe Unterstützung ist entscheidend
Kinder mit Legasthenie benötigen keine ständigen Ermahnungen, mehr zu üben. Sie brauchen
Verständnis und eine gezielte Förderung, die auf ihre spezifischen Bedürfnisse eingeht. Vor
allem aber benötigen sie eine andere Art der Kommunikation. Wenn wir ihnen vermitteln, dass
sie genauso fähig sind wie andere, werden sie ihr Potenzial ausschöpfen können.
Leider beobachte ich oft, dass Kinder, die ständig mit negativen Etiketten konfrontiert werden,
in eine Abwärtsspirale geraten. Die Schulangst wächst, die Motivation sinkt, und die psychosomatischen Beschwerden häufen sich. Doch das lässt sich verhindern, wenn man frühzeitig gegensteuert.
Perspektivwechsel statt Stigmatisierung
In meiner Arbeit setze ich auf einen Perspektivwechsel bzw. Perspketivenentwicklung.
Legasthenie ist keine Schwäche, sondern eine andere Art, die Welt wahrzunehmen. Wenn wir
die Stärken dieser Kinder fördern, anstatt sie auf ihre Schwächen zu reduzieren, können wir den
Teufelskreis durchbrechen, der oft zu Schulversagen und geringerem Selbstwertgefühl führt.
Eltern, Lehrerinnen und Betreuerin müssen lernen, die richtigen Fragen zu stellen: Wie kann
ich das Kind unterstützen? Wie kann ich sein Selbstvertrauen stärken? Denn genau hier liegt der
Schlüssel zum Erfolg.
Kinder stärken statt schwächen
Legasthenie muss nicht zu einem lebenslangen Hindernis werden. Im Gegenteil. Mit der richtigen
Unterstützung können diese Kinder ihre Talente entfalten. Doch dafür brauchen sie Geduld,
Verständnis und vor allem eine positive, ermutigende Kommunikation.
Erkennen Sie die legasthene Begabung Ihres Kindes als besondere Stärke. Legasthenie hat nichts mit Intelligenz oder Fähigkeit zu tun hat. Es ist vielmehr eine andere Art, die Welt zu sehen und zu verstehen – und oft gehen daraus ganz besondere Stärken hervor.